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Moderner Pflanzenbau ohne Spritzmittel?

Pflanzenschutz Die öffentliche Debatte rund um den modernen Einsatz von chemischen Spritzmitteln ist aus Sicht vieler Landwirte von übertriebener Polemik geprägt. Aber Fakt ist: Breite Teile der Gesellschaft wollen die Chemie am Acker nicht mehr akzeptieren.

Bedrohliches Bienensterben, vergiftetes Trinkwasser und vom Krebs bedrohte Menschen: Bilder wie diese zeichnen Umweltschutzorganisationen üblicherweise in ihren Kampagnen etwa gegen den Einsatz von Glyphosat und Neonicotioniden. Und das äußerst erfolgreich. Beide Wirkstoffe sind EU-weit mittlerweile so umstritten, dass ihnen das endgültige Aus der behördlichen Zulassung droht. Dutzende andere Wirkstoff-Verbote könnten folgen.

Bauernvertreter und die Pflanzenschutzmittelindustrie stemmen sich nach Kräften gegen diese Entwicklung und argumentieren zumeist sachlich mit Verweis auf wissenschaftliche Studien. Allenthalben wird auch schwarzmalerisch das Ende einiger landwirtschaftlicher Kulturen heraufbeschworen. Wie es um Gefahren und Risiken von Glyphosat & Co letztlich bestellt ist, können fachlich unbedarfte Konsumenten dabei wohl kaum noch abschätzen. Letztlich muss sich aber die Landwirtschaft als Branche wohl ohnedies eher fragen: Wie schützen wir künftig unsere Ackerfrüchte, Obst- und Weinkulturen ohne gewisse Industrie-Wirkstoffe? Und wie wird sich die Rohstoffproduktion für Lebensmittel mittelfristig dadurch verändern?
Christian Stockmar ist Geschäftsführer von Syngenta Österreich und Vorsitzender der Industrie­gruppe Pflanzenschutz (IGP). Er sagt: „Die Zahl der amtlich zugelassenen Wirkstoffe hat sich seit 1997 von knapp 1.000 auf 400 mehr als halbiert.“ Beinahe 100 weitere Wirkstoffe seien bereits gefährdet, so seine nüchterne Analyse. Das Joint Research Center der EU-Kommission habe die Auswirkungen allein für das Verbot der Neonicotinoide kalkuliert. Daraus gehe hervor, dass das 4,4-Fache an Applikationen mit oftmals weniger wirksamen Wirkstoffen nötig sei. Und das bei einer Verdoppelung des Zeitaufwandes und einem Anstieg der Kosten um 85 Prozent. „Trotzdem beklagt der Großteil der Bauern eine höhere Schädlingsdichte“, weiß Stockmar. Dabei sei es sehr wohl „im Sinne des ‚integrierten Pflanzenschutzes‘, dass der bessere und effizientere den älteren Wirkstoff ablöst“. Aufgrund der gestiegenen Kosten und der immer höheren Auflagen würden jedoch viel weniger neue Wirkstoffe zugelassen. Bei der IGP befürchtet man zudem das baldige Aus für die zehn wichtigsten Getreidefungizide. „Mit den verbleibenden Wirkstoffen wird aber die Gefahr von Resistenzen massiv ansteigen“, so Stockmar.

Wie sich dann die Anbaupläne der Bauern konkret verändern werden und ob ein Pflanzenschutzmittel-Kahlschlag gar den Strukturwandel weiter befeuern wird, ist dagegen nur schwer abzuschätzen. „Einer stellt bereits bei zehn Prozent weniger Deckungsbeitrag um, für einen anderen ist ein Viertel weniger noch tragbar“, meint der Pflanzenbaureferent der LK Österreich, Günther Rohrer. Im Ackerbau seien allerdings einige Entwicklungen schon heute abzusehen: „Der Pflug erlebt wieder eine gewisse Renaissance. Nach Mais wird wieder mehr geackert. Denn mit weniger Wirkstoffen wird die Direkt- oder Mulchsaat zunehmend schwieriger werden.“

Raps oder Durum-Hartweizen als für den Landwirt herausfordernde Kulturen werden laut Rohrer künftig wohl weniger angebaut. „Dafür werden unkomplizierte Feldfrüchte wie Mais, Weichweizen oder Roggen profitieren“, glaubt der Ackerbau-Experte. Das aber könnte wiederum zu Problemen bei den Fruchtfolgen führen. Daher müsse der Pflanzenschutz künftig viel mehr „als gesamtheitliches System“ betrachtet werden. Gemeint sei damit: Pflanzenschutz beginne nicht erst beim Befüllen der Feldspritzen, „dazu gehört auch die Züchtung widerstandsfähigerer Sorten, der Anbau von Untersaaten oder die Adaption der Saatdichte“, so der LK-Experte. Auch Ertrags- und Bodenkarten sowie ein immer genauerer Warndienst werden künftig helfen, den Pflanzenschutz variabler zu gestalten. Und: Mit dem Wachstum der Betriebe werde auch der Umgang mit der Agrarchemie immer professioneller, das längst verpönte Credo „Mehr hilft mehr“ weiter zurückgedrängt. Auch die wachsenden Betriebsgrößen spielen eine Rolle: „Wenn man sich beim Pflanzenschutz 20 Euro pro Hektar ersparen kann, wirkt sich das bei zehn Hektar nicht groß aus, bei 100 Hektar allerdings schon.“

Dazu kommt laut Stockmar die wachsende Bedeutung von „Smart Farming“: „Der Einsatz technologischer Hilfsmittel wird zunehmen. Drohnen, Sensoren, Apps und Datenmanagement werden immer wichtiger.“ Noch sei deren Einsatz zwar nur für größere Betriebe rentabel. Aber auch die Ausbringung von Nützlingen sei eine Alternative. Laut Stockmar wäre außerdem der vermehrte Einsatz biologischer Mittel eine logische Folge des Verlustes anderer Wirkstoffe. „Wir bemerken, dass zunehmend auch konventionelle Landwirte biologische Pflanzenschutzmittel ausbringen“, sagt der Syngenta-Manager. Im Osten Österreichs, wo viele Getreidebauern im Rahmen des ÖPUL bereits völlig auf Fungizide gegen Pilzkrankheiten verzichten, könnte noch mehr Druck in Richtung Bio entstehen, wenn bei den Kulturen die Ertragsunterschiede geringer und die Preisunterschiede höher werden, ergänzt Günther Rohrer.

Das von manchen Kassandra-Rufern polemisch prophezeite „Ende der europäischen Landwirtschaft“ drohe aber auch mit dem Verlust weiterer Wirkstoffe nicht. Als Beispiel kann das Verbot des Maisherbizids Atrazin im Jahr 1995 herangezogen werden. Auch damals hatten viele Bauern und ihre politischen Vertreter händeringend von einem „unverzichtbaren“ Mittel gesprochen, ohne das hierzulande kein rentabler Kukuruz-Anbau mehr möglich wäre. Die nackten Zahlen belegen das Gegenteil: 1995 wurden laut LK Österreich hierzulande rund 260.000 Hektar Mais angebaut. Die Anbaufläche wurde seither auf etwa 300.000 Hektar ausgeweitet.

Der Knackpunkt beim Pflanzenschutz sei allerdings letztlich die Konkurrenzfähigkeit, meint Christian Stockmar: „Für sämtliche alternativen Wirtschaftsweisen gilt: Mehr Aufwand bedeutet auch geringere Wettbewerbsfähigkeit. Die aktuelle Kahlschlagstrategie der EU bei den Wirkstoffzulassungen wird zu einer Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der europäischen Bauern führen.“ Letztlich werden die Konsumenten mit höheren Agrarpreisen konfrontiert sein und schlimmstenfalls zu billigeren Produkten aus Übersee greifen, von denen man nicht wisse, wie sie produziert werden. Mehr Transparenz und Fairness wünscht sich Günther Rohrer: „Wenn Glyphosat und Neonics wirklich schlecht sind, müssen auch alle importierten Lebens- und Futtermittel darauf untersucht werden.“

„DAS WIRD NICHT ALLEIN DAS GESETZ REGELN“

Um alle Alternativen zum chemischen Pflanzenschutz offen anzusprechen, hat das Landwirtschaftsministerium unter der Schirmherrschaft der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) die „Zukunft Pflanzenbau“ diskutieren lassen. Dabei saßen alle relevanten „Stakeholder“, neben praktizierenden Landwirten auch Umweltschützer und Agrochemievertreter, mit am Tisch. Letztlich wurden zehn Schwerpunkte identifiziert, an denen sich die Landwirtschaft orientieren soll, sagt Johannes Schmuckenschlager, der den Strategieprozess leitet. „Als erste Reaktion wurden die Warndienste der Landwirtschaftskammern ausgebaut.“ Diese waren zuvor meist in der Hand der Chemieanbieter, „was zumindest eine schiefe Optik hinterlassen hat“, so Schmuckenschlager. Er befürwortet eine Entflechtung der Interessen von Industrie und Landwirtschaft.
Mittlerweile treten die Konzerne in der Interessensgruppe Pflanzenschutz selber auf und erklären ihre Produkte auch gegenüber Vorbehalten. Und nicht mehr die Bauern als Anwender. „Das ist auch nicht unsere Aufgabe“, so Schmuckenschlager, der auch Weinbaupräsident ist. „Wir Bauern müssen die Sicherheit haben, dass die Mittel geprüft und zertifiziert sind, und dürfen nicht dafür den Kopf hinhalten.“

Indes befürchtet Schmuckenschlager weitere Wirkstoffverluste auf Drängen von Umweltschutz-NGOs und der Lebensmitteleinzelhandels. Letzterer würde längst eigene Regeln dafür aufstellen, was in die Supermarkt-Regale kommt. Schmuckenschlager: „Den einen oder anderen Wirkstoff werden wir wohl nicht mehr einsetzen können, obwohl er zugelassen ist. Das wird nicht allein der gesetz­liche Rahmen regeln.“
Gleichzeitig befasst sich auch die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) in ihren „10 Thesen zur Landwirtschaft 2030“ kritisch mit dem Thema. Um den Pflanzenbau „mit Umwelt- und Naturschutz in Einklang zu bringen“, müssten präventive ackerbauliche Verfahren und technische Innovationen für den mechanischen Pflanzenschutz verstärkt werden. Auch resistentere und tolerantere Sorten, ein regelmäßiger Wirkstoffwechsel sowie neue und selektivere Wirkstoffe sollten zukünftig eine größere Rolle spielen, fordert Deutschlands größte Agrar-NGO. Dies sicherzustellen, dass für alle Kulturarten eine ausreichende Anzahl an Pflanzenschutzmitteln die amtlichen Prüfungen zügig durchlaufen könne, sei Aufgabe der Industrie und der Zulassungsbehörden.

STEFAN NIMMERVOLL

www.zukunft-pflanzenbau.at
www.dlg.org