Foto: SN

Im böhmischen Kuhhimmel

Wer mit dem Flugzeug über das Grenzgebiet von Österreich und Tschechien fliegt, kann auch nach dem Abbau des „Eisernen Vorhangs“ 1989 bis heute den Verlauf der Staatsgrenze leicht mit bloßem Auge ausmachen. Im Mühl-, Wald- oder auch im Weinviertel liegt ein bunter Fleckerlteppich an kleineren Äckern und Wiesen. In Südböhmen, noch mehr in Südmähren, dominieren riesige Äcker. In den Wirren nach dem 2. Weltkrieg wurden erst die deutschsprachigen Bewohner dieser Regionen vertrieben und bald darauf auch deren tschechischen Nachfolger als Grundbesitzer zwangsenteignet, die Agrarflächen kollektiviert. In einer Radikalität wie sonst kaum in einem anderen kommunistischen Land wurden dabei Landschaften ausgeräumt und gewaltige, planwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften geschaffen.

Nach der Wende wurden Anfang der 1990er Jahre zwar große Teile des solcherart verstaatlichten Eigentums ihren Besitzern wieder zurückgegeben, vorausgesetzt, es handelte sich um Tschechen. Viele Agrarbetriebe haben ihre damalige Größe aber auch in dem neuen politischen und wirtschaftlichen Umfeld bis heute bewahrt. So bewirtschaften heute zwar 90 Prozent der rund 47.500 Höfe in Tschechien weniger als 100 Hektar, alle zusammen aber nur 13 Prozent der Nutzflächen. Den Ton geben nach wir vor jene 3,8 Prozent der Agrarbetriebe an, die jeder mindestens 500 Hektar bestellen und gemeinsam mehr als zwei Drittel des Kulturlandes unter dem Pflug haben. Ein durchschnittlicher Agrarbetrieb in der Tschechischen Republik ist 73 Hektar groß, auf einem typischen Milchviehbetrieb stehen 314 Kühe. 70 Prozent der Kühe werden in Ställen mit mehr als 255 Kuhplätzen gehalten. Damit führt Tschechien in der EU-Statistik haushoch. Zugleich hat sich die Zahl der Milchkühe seit der Wende um 60 Prozent auf 370.000 verringert, überhaupt halten nur mehr 1.125 Betriebe Milchkühe, die meisten davon in großen Einheiten, Kleinerzeuger sind mittlerweile rar.

Ein Parade-Großbetrieb ist die „Zemedelské družstvo Bernartice“ im Kreis Pisek: 2.400 Hektar Äcker, 500 Hektar Grünland. Und nach der demnächst jüngsten Ausbaustufe 1.700 Rinder, davon 600 Milchkühe. Geschäftsführer der Genossenschaft ist Pavel Novotny. Er arbeitet seit 31 Jahren im Betrieb und hat diesen auch schon in der kommunistischen Ära geleitet. Heute halten 320 Leute aus dem Dorf Anteile, haben ihre Flächen in den Betrieb eingebracht. „400 Hektar gehören mittlerweile dem Unternehmen selber“, erzählt der Agronom, im Gespräch mit BLICK INS LAND. Für die 1.300 Einwohner zählende Gemeinde sei der Agrarbetrieb der wichtigste Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber.

Ausgerichtet ist die ZD Ber­nartice im Wesentlichen auf die Produktion von Milch. 4,1 Mio. Liter liefert sie derzeit pro Jahr, dazu die Nachzucht für den eigenen Bestand und Jungstiere für die Schlachtung. „Mit einem Stalldurchschnitt von 7.500 Kilogramm liegen wir bewusst nicht im Spitzenfeld“, so Novotny. Lieber halte man auch statt Holstein-Kühen, heute 56 Prozent des Gesamt-Kuhbestandes im Land, das mit zugekauftem Sojaschrot gefüttert werden müsste, primär traditionell tschechisches Fleckvieh. Dieses sei aber im Unterschied zu in Österreich gängiger Genetik „viel mehr auf Milchleistung ausgerichtet“. Landesweit kratzt der Stalldurchschnitt in Tschechien – dank Holstein – mittlerweile an der 10.000-Liter-Marke, um 1989 waren es gerade einmal 3.700 Liter pro Jahr.

Überzeugt von Fleckvieh ist auch das Molkereiunternehmen Madeta mit rund einer Millionen Liter Anlieferung pro Tag und laut eigenen Angaben der größte Milchverarbeiter im Land. „Wir haben uns auf Käse spezialisiert und brauchen daher Milch mit hochwertigen Inhaltsstoffen. Deshalb bevorzugen wir Fleckvieh aus Südböhmen“, erzählt Juniorchef Jan Teply. Sein Vater Milan hat die Firma 1990 übernommen, deren Geschäftsführer er zuvor war. „Madeta ist heute die letzte Molkerei in tschechischer Hand. Alle anderen relevanten Mitbewerber gehören längst zu internationalen Unternehmen wie Müller Milch oder Lactalis.“

Die zuletzt 215 Millionen Euro Umsatz machen die Teplys zu einem guten Teil im Export – nach Libanon und Saudi-Arabien, aber auch Algerien. Interessante Marktnischen bisher, auch weil „offene Märkte in Europa nur vom Westen nach Osten, nicht aber von Osten nach Westen funktionieren“, wie Teply verärgert anmerkt. So würden deutsche Molkereien zwar gerne große tschechische Höfe abwerben, weil Rohmilch in Tschechien billiger ist als in Deutschland. „Der deutsche Lebensmittelhandel weigert sich aber, unsere Madeta-Produkte ins Regal zu stellen.“

Molkereien im genossenschaftlichen Eigentum der Bauern, in Österreich gang und gäbe, sind in Tschechien indes gänzlich unbekannt. Dafür bündeln die großen Milchviehhalter ihren Rohmilchfluss in Liefergemeinschaften, als Angebot für Bestbieter. So auch Pavel Novotny. Daher wisse er üblicherweise auch nicht, wohin die Milch aus Bernartice geliefert werde. „Manchmal zu Madeta oder zu einer anderen Molkerei, manchmal ins Ausland“, zuckt der Betriebsleiter mit den Schultern. Welches Milchauto auf den Hof fahre, entscheide die Liefergemeinschaft.

Bei Madeta arbeitet man hauptsächlich mit drei solcher Liefergruppierungen und einigen freien Lieferanten zusammen. Je nach Modell wurden Verträge mit bis zu fünf Jahren Laufzeit abgeschlossen oder es wird eben zu Tageskonditionen gekauft. Mit rund 20 Cent Milchpreis war 2016 auch in Tschechien der Milchpreis im Keller. Aktuell beträgt er im Herbst 2017 rund 36 Cent. Mit diesem Preisnivau ist Jan Novotny zufrieden. „Wir brauchen rund 35 Cent Milchpreis, um Gewinn zu machen. Jetzt kann ich wieder kalkulieren.“ Man sei zwar sehr kosten­effizient aufgestellt, „allerdings warten jedes Monat 46 Angestellte auf ihren Lohn“. Phasen, in denen mit Milch nichts zu verdienen sei, seien gerade für Großbetriebe schwierig. „Das geht schneller auf die Substanz wie bei einem Familienbetrieb, der seine Ausgaben für einen gewissen Zeitraum leichter einschränken kann.“ Novotny glaubt allerdings an die Zukunft der Milchwirtschaft in Tschechien: „Sonst hätten wir nicht 19 Millionen Kronen (umgerechnet rund 3,5 Millionen Euro, Anm.) in neue Ställe investiert.“

Ein großer Unsicherheitsfaktor sei allerdings die künftige Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU. Agrarkommissar Phil Hogan hat ja zuletzt mit einem Vorschlag aufhorchen lassen, Großbetriebe nicht mehr so stark fördern und die Gelder vermehrt in Richtung Familienbetriebe umzuverteilen zu wollen. Hauptbetroffen davon wäre wohl auch Tschechiens Agroindus­trie. Da wird aber auch Jan Novotny energisch: „Die ersten 300 Hektar mehr zu fördern als bisher ist ja in Ordnung. Aber eine Obergrenze, über der es überhaupt keine finanzielle Hilfen mehr gibt, würde das Ende der Nutzviehhaltung in Tschechien bedeuten.“ Und sei aus seiner Sicht auch nicht fair: „Große Betriebe haben zusätzliche Kosten, etwa für Beschäftigte.“ Zudem entstehe in Tschechien eben erst ein Bewusstsein für nachhaltige Landwirtschaft: „Mit Fördergeldstreichungen würde man wohl wieder in alte Mechanismen der Ertragsmaximierung zu Lasten des Bodens zurückfallen. Dabei zeigen wird gerade in Bernartice, dass man auch auf einem Betrieb in unserer Größe gut arbeiten kann. Schaut euch einmal unsere Ställe an: Ist das nicht der Kuhhimmel?“

STEFAN NIMMERVOLL