Brexit-Ängste werden größer
Der britische Premier Boris Johnson sucht vergeblich einen Ausweg aus dem Brexit-Dilemma. Er verspricht den Mitgliedern seiner Tory-Partei einen Austritt aus der EU am 31. Oktober 2019, komme was da wolle. Allerdings wird Johnson für einen Austritt ohne Abkommen keine Mehrheit im britischen Parlament bekommen und damit sein Versprechen nicht halten können. Deshalb warb der britische Premierminister in dieser Woche in Brüssel, Berlin und Paris für ein neues Abkommen, holte sich aber überall eine Abfuhr. Die EU-Mitgliedstaaten wollen Garantien für eine offene irische Grenze keinesfalls aus dem Austrittsvertrag herausnehmen. Frankreich vertritt eine harte Linie und rechnet mit einem ungeregelten Austritt Ende Oktober, der besonders den Briten schaden wird. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hofft noch auf eine Einigung in den kommenden Wochen.
Im britischen Agrarsektor wachsen die Sorgen über einen ungeordneten Ausstieg aus der EU. Sowohl bei den Importen als auch bei den Exporten von Nahrungsmitteln drohen auf der Insel Störungen, wenn plötzlich alle Vereinbarungen des EU-Binnenmarktes nicht mehr gelten. Eine in dieser Woche bekannt gewordene regierungsinterne Studie warnt vor Engpässen bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Besonders bei frischem Obst und Gemüse könne es im Vereinigten Königreich zu Lücken und Preisanstiegen kommen, warnte die Studie. Das Vereinigte Königreich importiert mehr als 80% seines Bedarfs an Tomaten und 90% seines Verbrauchs an Salat aus der EU. Die Lieferungen werden sich im Falle eines „No Deals“ durch die erschwerten Zollabfertigungen zumindest verzögern. Der britische Ex-Landwirtschaftsminister Michael Gove winkt ab und betont, die Studie habe die schlimmste aller Möglichkeiten untersucht, die wahrscheinlich nicht eintreffen werde.
Die britische Öffentlichkeit ist durch die drohenden empfindlichen Einschnitte dennoch alarmiert. Die Lebensmittelhersteller des Vereinigten Königreiches wollen sich bei möglichen Engpässen gegenseitig aushelfen. Der britische Verband der Lebensmittelhersteller (FDF) fordert deshalb Ausnahmen von der Kartellgesetzgebung. „Um im Falle eines ‚No Deals‘ kooperieren zu können, brauchen wir eine schriftliche Zusage der Regierung, dass die ansonst üblichen Strafen für einen Verstoß gegen die Kartellgesetzgebung ausgesetzt werden“, erklärt der Verband. Eine solche Zusage lässt aber auf sich warten.
Nicht Engpässe, sondern Überschüsse fürchten dagegen die britischen Landwirte bei einem ungeregelten Austritt aus der EU. Besonders betroffen sind die Schafhalter. Gerade wenn die sommerliche Mastperiode zu Ende geht und das Angebot an Lammfleisch am höchsten ist, wird die EU-27 im Falle eines „No Deals“ am 31. Oktober 2019 einen Einfuhrzoll von 40% für Schaffleisch verhängen. Da 40% der britischen Lammfleischproduktion in die EU gehen, ist folglich mit größeren Überschüssen und einem Preiseinbruch auf der Insel zu rechnen. Mit finanziellen Hilfen für die Lammfleischerzeuger und staatlichen Aufkaufprogrammen will Premierminister Johnson aushelfen. Doch konkrete Zusagen gab er bisher keine, weshalb er sich bei seinen Antrittsbesuchen in Wales und Schottland keine Freunde machte.
Nach Ansicht des britischen Bauernverbandes (NFU) unterschätzt die Regierung die Folgen eines regellosen Austritts für den Agrarsektor. Die Schwierigkeiten werden sich noch verschärfen, betont NFU-Präsidentin Minette Batters, wenn nach dem EU-Austritt durch neue Handelsabkommen mit anderen Ländern Billigimporte den britischen Agrarmarkt unterlaufen und zudem zu einem Verfall der hohen Lebensmittelstandards führen