Foto: Hiesinger

Die große Flut

Es war eine Katastrophe, wie sie das Tullnerfeld noch nie erlebt hat. Ganze Ortschaften versanken Mitte September in den Fluten. Betroffen waren auch unzählige Bauern, die nun ihre gesamte Existenz in Frage stellen. STEFAN NIMMERVOLL hat exemplarisch zwei Opferfamilien getroffen.

Martin Hiesinger ist am Boden zerstört. Der Landwirt aus Judenau steht im Innenhof seines Anwesens vor der Stalltür und seufzt tief. „Hineingehen kann ich nicht. Das würde mir zu sehr zu schaffen machen“, muss der 51-jährige hörbar schlucken. Viel tun könnte er in dem leeren Gebäude ohnehin nicht. Zwar müsste gereinigt werden. „Ich habe aber keinen Strom, weil der Verteilerkasten unter Wasser gestanden ist.“ Lieber schiebt er seine Sorgen um den Maststall also gedanklich weg und kümmert sich um die Verwüstungen im Hof und im Wohnbereich. Doch das Gespräch kommt immer wieder zurück zu jenem verhängnisvollen Sonntag. „Am Vormittag ist bei den Schweinen die Lüftung ausgefallen.“ Bis Mittag ist das Niveau dann weiter gestiegen, letztlich auf 1,40 Meter im Stall. „Um 20 Uhr sind wir mit dem Radlader nochmals hingefahren und ich habe beim Fenster hineingeschaut. Da habe ich noch lebende Tiere gesehen.“

Er musste sie im Stich lassen. Erst als die Flut langsam zurückging, konnte er sich wieder zum Stall vorwagen. „Dort habe ich dann die Toten zählen müssen.“ 280 Mastschweine waren jämmerlich ersoffen. 80 größere hatten überlebt und wurden, stets in Vierergruppen, mit einem Autoanhänger heraus und augenblicklich zur Schlachtung gebracht.  Mit befreundeten Landwirten und freiwilligen Helfern hat Hiesinger dann die Kadaver herausgezerrt. Drei volle Container sind es schließlich geworden. Sämtliche Ausrüstung, von der Steuerung der Lüftung bis zum Fütterungsautomaten, ist kaputt. Die panisch schwimmenden Tiere haben die Aufstallung zerstört und Leitungen heruntergerissen. Schweine wird Hiesingers Stall auf absehbare Zeit keine mehr sehen. „Ich gebe mir bis Weihnachten Zeit, mich um all die Zerstörungen im Haus zu kümmern, dann sehen wir weiter.“

Ganz ähnlich hört sich die Geschichte von Siegfried Gfatter aus Rust an. Bei ihm waren es Rinder, die bis zum Hals im Wasser standen. „Die Überflutung ist blitzartig gekommen. Ich wollte nochmals zurück, aber mein 14-jähriger Sohn hat mich aufgehalten. Am nächsten Tag in der Früh habe ich erwartet, dass alle tot sind“, erzählt er. Er hatte Glück im Unglück: 60 Maststiere standen etwas erhöht auf Stroh. Einen Teil der Stiere auf Spaltenboden konnte der Bauer in einen aufgelassenen Stall eines Kollegen evakuieren, einen Teil musste er notverkaufen, obwohl sie noch nicht schlachtreif waren. „Sie haben fürchterlich gezittert und hätten bestimmt etwas mit der Lunge bekommen.“

Das wahre ökonomische Drama hat sich für Familie Gfatter aber am Acker abgespielt. Denn auf drei Hektar hatte sie jenes Kraut angebaut, für das Rust so bekannt ist. Ein Feld ist im Hochwasser abgesoffen, das andere wurde bei Pumparbeiten versehentlich geflutet. „Wir haben in die Kulturführung bereits 30.000 Euro investiert. Das Kraut war über 100.000 Euro wert“, sagt Siegfried Gfatter bitter. Er macht sich Vorwürfe, dass er keine Versicherung abgeschlossen hat. „Ich habe immer nur etwas gekauft, wenn ich es mir hart erarbeitet habe. Jetzt brauche ich aber das Geld, um das Haus herzurichten. Wir haben einen Teil vom Katastrophenfonds erhalten, aber keine 50 Prozent der tatsächlichen Schäden.“ Die Wände sind nass, der Estrich musste in einigen Bereichen entfernt werden. In manche Räume ist Gülle geschwemmt worden. Die Familie hat eine Zeit lang bei der Schwester einige Ortschaften entfernt gewohnt und ist zum Rinderstall gependelt. Jetzt ist man zu Freunden in Rust gezogen. Gfatter kann deshalb schwer zur Ruhe kommen.

Dass Situationen wie diese psychisch belastend sind, liegt für Elisabeth Rennhofer, einer diplomierten Lebens- und Sozialberaterin bei der Landwirtschaftskammer Niederösterreich, auf der Hand. Beim Hochwasser seien ganze Regionen betroffen. „Ein wichtiger Anker kann der Zusammenhalt in der Familie, aber auch im Dorf oder in der Feuerwehr sein.“ Rennhofer empfiehlt, externe Hilfe, zum Beispiel von Lebensqualität Bauernhof, anzunehmen. „Selbst kann man die Geschichten vielleicht gar nicht mehr hören. Jemand von außen bringt eine neue Perspektive herein.“ Derzeit gebe es noch keine verstärkte Nachfrage bei der Telefonhotline. „Viele Betroffene sind in der Akutphase und verharren vielleicht in einer Schockstarre. Danach ist es aber wichtig, lösungsorientiert in kleinen Schritten in die Zukunft zu arbeiten.“

Ungeklärt ist auch, wie es am Hof von Martin Hiesinger weitergeht. Aus dem Katastrophenfonds soll die Hälfte des Schadens an den Maschinen und im Stall gezahlt werden. Der Landwirt müsste aber seine Ersparnisse in die Wiederherstellung des Vollspaltenboden-Systems investieren, von dem er nicht weiß, wie lange es noch erlaubt ist. „Es ist überhaupt noch unklar, ob eines meiner vier Kinder den Betrieb übernehmen will. Unser Plan wäre es gewesen, über einen Tierwohlstall und eine Erweiterung der Mastplätze nachzudenken, wenn die Hofnachfolge geregelt ist.“ Weil auch ein Wohnbauprojekt direkt neben dem Hof geplant ist, sieht er zusätzlich Anrainerprobleme auf sich zukommen. „Eigentlich müssten wir dann auf die grüne Wiese aussiedeln. Ich möchte diese Entscheidung aber jetzt nicht treffen“, ist der Judenauer ratlos.

Zutiefst verunsichert ist auch Siegfried Gfatter: „Im ersten Schock habe ich gesagt, wir geben auf und machen nicht weiter. Mein Sohn hat mich sogar gefragt, ob er von der Landwirtschaftsschule weggehen soll.“ Mittlerweile hätte der Papa wieder eine irrsinnige Freude, wenn es weitergehen würde. „Ich hatte aber im Sommer einen mehrfachen Bandscheibenvorfall. Während der Aufräumarbeiten musste ich ins Spital, weil ich meine Hände und meine Füße nicht mehr gespürt habe.“ Der Arzt habe dem 52-jährigen einen Körper wie einem 70-jährigen attestiert. Den ganzen Winter so viel Kraut für die Händler vorbereiten, wird nicht mehr gehen.

Nur mit Ackerbau und Stieren wird der Betrieb aber nicht im Vollerwerb zu halten sein. „Wir überlegen hin und her, ob meine Frau arbeiten gehen soll oder ob wir einen anderen, körperlich weniger anstrengenden Betriebszweig dazunehmen sollen.“ Auf einen grünen Zweig ist die Familie bisher nicht gekommen. Siegfried Gfatter: „Vielleicht ist es ja der einzige positive Aspekt des Hochwassers. Wir haben jetzt endlich einmal Zeit, über alles genauer nachzudenken.“ Irgendwann, wenn alles saniert ist, wird die Familie auch wieder in die eigenen vier Wände zurückkehren können. Eines ist aber klar: „Wenn das Wasser nochmals kommt, ist es vorbei.“