„Widerstand kann man lernen“
Pestizide! Überall auf der Welt sind sie auf dem Vormarsch. Überall? Nein! Das von unbeugsamen Vinschgern bewohnte Dorf Mals in Südtirol hört nicht auf, dagegen Widerstand zu leisten.
Mit rund 18.400 Hektar Anbaufläche ist Südtirol das größte zusammenhängende Obstanbaugebiet in Europa. Zehn bis zwölf Prozent der europäischen Apfelernte werden laut „Südtiroler Apfelkonsortium“ hier produziert. Vor drei Jahren, 2014, verzeichnete man mit 1,2 Millionen Tonnen Äpfel sogar eine Ernte der Superlative. Vergangenes Jahr waren es immerhin 953.000 Tonnen, allen voran Golden Delicious und Gala. Immerhin: auch jeder vierte Bio-Apfel stammt aus Alto Adige, wie die Provinz Südtirol mit ihren Tälern entlang der Flüsse Etsch und Eisack auf Italienisch heißt.
Bis weit hinein in den Vinschau, fast bis zum Fuße des Ortler, reichen heute die Obstplantagen der etwa 7.500 Apfelbauern und ziehen sich von Laas über Meran und Bozen über gut 120 Kilometer bis hinunter an die Salurner Klause, die Grenze zum benachbarten Trient. Wo einst im Sommer nur noch das Jungvieh und einige Schafe grasten, werden im Vinschgau heute auf bis zu 1.100 Metern Seehöhe Äpfel kultiviert. Die Anlage von Obstplantagen ist in den vergangenen dreißig Jahren nahezu explodiert, jeder vierte Südtiroler Landwirt ist heute auch ein Apfelproduzent. Ihre Obstanlagen haben in den engen Tallagen längst die Wiesen und wenigen Felder verdrängt und damit das Bild der Kulturlandschaft neu gezeichnet.
Die Marktgemeinde Mals liegt im Oberen Vinschgau auf etwas über 900 bis 1.300 Metern Seehöhe und – noch – inmitten einer intakten, über Jahrhunderte gewachsenen Kulturlandschaft. Hier gibt es sie noch: wogende Kornfelder, satte Wiesen, darauf weidende Rinder und Schafe, aber auch Obstbäume und Gemüse, dazwischen kleine Baumgruppen gewundene Wege und Pfade. Im Unteren Vinschgau sucht man solche Vielfalt mittlerweile vergeblich. „Kilometer um Kilometer nichts als Apfelplantagen. Zurechtgestutzt für die Bedürfnisse der Pflücker, sieht ein Baum wie der andere aus.“ Der Abstand zwischen den Baumreihen entspreche „genau der Breite der Pflanzenspritzen, mit der die Apfelproduzenten bis zu zwanzig Mal pro Jahr ausrücken. So oft werden die Pflanzen in giftige Nebel gehüllt, mit Pestiziden behandelt“.
So beschreibt ein Zugereister, der gebürtige Salzburger Autor und Filmemacher Alexander Schiebel die Südtiroler Agrarkulisse. Er hat sich vor einigen Jahren mit seiner japanischen Frau und seinen Kindern in Südtirol niedergelassen und ist dort auf ein Dorf gestoßen, dass sich gegen ein Überschwappen der industriellen Monokultur-Produktion auf eine der letzten davon freien Bastionen im Land mit aller Entschlossenheit wehrt. Und erste Gemeinde Europas werden möchte, die Pestizideinsatz in der Landwirtschaft auf ihrem Gebiet verbietet. Die Geschichte dieses Aufstands der wild entschlossenen Malserinnen und Malser hat Schiebel über einige Jahre hinweg verfolgt, aufgeschrieben und mit Filmaufnahmen dokumentiert.
Anfang September ist ein lesenswertes Buch darüber erschienen: „Das Wunder von Mals – Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet.“ Wenn auch nicht wirklich neutral ausgewogenen, vermittelt Schiebel darin den ungleichen Kampf einer 5000-Seelen-Gemeinde, angeführt von einem Dutzend charismatischer Querdenker gegen eine mächtige Allianz der Agrarlobby und Agroindustrie, die auch vom Bauernbund und der Landesregierung unterstützt wird.
Die Malser sind jedenfalls wild entschlossen: Ihr Dorf soll zur ersten Pilot-Gemeinde Europas werden, die den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft verbietet. Bei einer Volksabstimmung entschied sich eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Zukunft ohne chemischen Pflanzenschutz. Zu Wort kommen ganz normale, eigentlich unverdächtige Bürger: der Apotheker, der Gemeindearzt, ein Biobauer, die Frauen von Mals, der Bürgermeister. Sie artikulieren ihre Vorbehalte, Sorgen und Ängste. Und lassen trotz einiger Rückschläge keine Zweifel über ihren Kampfeswillen. Mittlerweile gab es dafür auch schon international Anerkennung und Preise.
Jüngster Rückschlag: Ein besonders perfider Anschlag, vermutlich aus dem Umfeld der konventionellen Apfelerzeuger, gegen den Malser Biobauer Ägidius Wellenzohn. Nach seinem Auftritt in einer ARTE-Dokumentation sowie rund um den Erscheinungstermin des Buches im Spätsommer verfärbten sich seine Äpfelbäume am seit Jahrzehnten biologisch geführten Betrieb plötzlich braun. Nach der Entnahme von Blattproben ergaben die Rückstandsuntersuchungen: die Obstbäume wurden – vermutlich nachts per Handspritze – mit Glyphosat „behandelt“. Nicht nur der Schaden ist enorm, der Biohof verliert wegen des Gifteinsatzes einiges an Förderungen und muss in den nächsten Jahren wie ein Umstellungsbetrieb eingestuft werden.
Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher kritisierte übrigens in einem Brief an ARTE den Dokfilm als weitere „effektvolle Inszenierung“.
„Widerstand ist etwas, das man lernen kann – wie Skifahren“, sagt Autor Schiebel. Sein Buch ist ein lebendiges Porträt einer Gemeinde, wie man sie nur noch selten findet. Und ihrer widerspenstigen Bewohner, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen möchten. Und eine durchaus lesenswerte Anleitung für Aufständische – weit über die Grenzen Südtirols hinaus.
BERNHARD WEBER
„Das Wunder von Mals. Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet“ von Alexander Schiebel, Verlag oekom, 256 Seiten, 19,60 Euro; ISBN 978-3-96006-014-7
Kurzfilme zum Thema: www.vimeo.com/135581042