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Zwischen Hoffen und Bangen

Seit vergangenen Februar tobt in der Ukraine ein menschenverachtender Krieg. Betroffen ist auch die Landwirtschaft. Dennoch blickt man nach vorne und strebt sogar einen EU-Beitritt an. Das würde die Karten am Binnenmarkt völlig neu mischen.

Was Hryhoriy Tkachenko bei einem Kurzbesuch in Wien erzählt, ist aus der sicheren Perspektive Österreichs kaum vorstellbar: Sein Agrarbetrieb „Naporivske“ in der Nähe der Stadt Tschernihiv im Norden des Landes wurde im Zuge der Invasion russischer Truppen verwüstet. Der Stall ist teilweise zerstört, von ursprünglich 316 Milchkühen sind 158 verendet. Ohne Strom konnte die Rinder weder gemolken noch die Milch gekühlt werden. 50 Tage lang konnte er seinen Hof nicht betreten. Sein Ackerland war mit nicht explodierten Granaten und Raketenteilen verseucht. Fünf seiner besten Arbeiter sind an der Front, einer ist im Krieg gefallen. Auch Tkachenkos eigener Sohn dient in der ukrainischen Armee. Der Landwirt muss jeden Tag um dessen Leben bangen. Den materiellen Schaden auf seinem 1.500 Hektar-Betrieb schätzt Tkachenko auf umgerechnet eine Million Euro.

„Nach der Befreiung der Regionen Kyjiw, Tschernihiv, Sumy, Charkiv und Teilen von Cherson wurden viele landwirtschaftliche Betriebe teilweise oder völlig zerstört vorgefunden, bei vielen wurden Mähdrescher, Traktoren und andere Fahrzeuge gestohlen und nach Russland ausgeführt“, berichtet Volodymyr Chomenko vom Österreichischen Außenwirtschaftscenter in Kiew. Seit Beginn der Invasion sei Getreide im Wert von einer Milliarde US-Dollar aus der Ukraine entwendet und in Länder wie die Türkei, Syrien oder den Libanon geschmuggelt worden. Insgesamt fiel die aktuelle Ernte aufgrund der Kampfhandlungen ohnehin schmäler aus. 2021 hat das Land einen Rekord von rund 100 Mio. Tonnen an Getreide und Ölsaaten eingebracht. 2022 waren es nur 65 Mio. Tonnen.

Hryhoriy Tkachenko und sein Team arbeiten nach der Befreiung seiner Heimatregion unter Volldampf an der Wiederherstellung der Infrastruktur. „Wir haben uns einen Zeitplan mit den Prioritäten gemacht. Zuerst war es notwendig, die Viehwirtschaft ins Laufen zu bringen.“ Mittlerweile hat man wieder einige Stunden Strom pro Tag. „Das nächste Ziel war es, die Felder zu säubern, damit wir anbauen können.“ Jetzt geht es darum, die Ware wieder vom Hof auf die Weltmärkte zu bringen. Vor allem beim Getreide ist er von Exporten abhängig. Dabei hilft der Getreidekorridor über die Schwarzmeerhäfen, über die innerhalb von vier Monaten 13 Mio. Tonnen verschifft werden konnten. Parallel dazu geht auch Ware über den Landweg auf der Straße und die Eisenbahn Richtung Westen und Europäischer Union.

Grundsätzlich ist schon Anfang 2016 ein Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, das wesentlich mehr Importe zuließ, in Kraft getreten. Am 19. Mai 2022 hat das Europäische Parlament zusätzlich eine einjährige Aussetzung aller Zölle und Kontingente für ukrainische Exporte gebilligt. Agrarische Beobachter sind hin- und hergerissen zwischen der moralischen Verpflichtung, der ukrainischen Landwirtschaft zu helfen und den Auswirkungen, die Importe auf die hiesigen Märkte haben könnten. „Für angrenzende Länder wie Polen können die veränderten Exportwege Probleme darstellen“, räumt der Leiter des Institutes für Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung an der Universität für Bodenkultur in Wien, Klaus Salhofer, ein. Beim Getreide bestimmt zwar weitgehend der Weltmarkt die Preise, auf weniger globalisierten Märkten wie Fleisch sind aber die Auswirkungen der zusätzlichen Importe auf die Preise stärker. Vor allem aus der Geflügelbranche hört man warnende Stimmen, nicht zu viel ukrainische Ware auf den EU-Markt fluten zu lassen.

„Die EU ist der wichtigste Handelspartner für die Ukraine. Im Jahr 2021 führte diese Waren im Wert von 24,1 Milliarden Euro in die EU ein, hauptsächlich Rohstoffe wie Eisen und Stahl, aber auch landwirtschaftliche Erzeugnisse“, weiß Volodymyr Chomenko. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres ist dieser Wert kriegsbedingt um rund ein Drittel zurückgegangen. Nach Berechnungen der Ukrainian Business and Trade Association (UBTA) könnte die Abschaffung aller Quoten und Zölle durch die EU in normalen Zeiten aber zu einem Anstieg der ukrainischen Exporte in die EU um mehr als eine halbe Milliarde Euro führen. Langfristig träumen viele Ukrainer aber sogar von einer Vollmitgliedschaft in der Union. 2019 hat das Parlament in Kiew eine „strategische Orientierung zum vollständigen Beitritt zur EU und zur NATO“ beschlossen. Im Juni 2022 wurde der Ukraine dann von den Staats- und Regierungschefs der EU der Status eines EU-Kandidaten zugestanden. „Einen Beitritt wird es aber nicht sofort geben“, meint Chomenko. „Der Prozess kann aber noch Jahre dauern, denn ein Bewerber muss eine Reihe von Kriterien erfüllen, was sein politisches System und die Rechtsstaatlichkeit angeht.“

Ein Knackpunkt für eine Mitgliedschaft wird die Frage der Kompatibilität der Landwirtschaftssysteme sein. „Eine Teilnahme der Ukraine an der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU in ihrer derzeitigen Ausgestaltung mit Flächenprämien und Umweltzahlungen ist schwer vorstellbar“, räumt Klaus Salhofer ein. Das wäre, neben der praktischen Umsetzbarkeit in einem Riesenland mit teilweise unklaren Eigentumsverhältnissen, auch aus der Position der Nettozahler schwierig. Das Land würde nach derzeit geltenden Regeln rund zwei Milliarden Euro in das EU-Budget einzahlen und aufgrund der riesigen Flächen zwischen acht und neun Milliarden Euro an GAP-Prämien herausbekommen. „Allerdings kann ohnehin niemand sagen, wie die GAP im Jahr 2030 aussehen wird“, so der Professor. Problematisch sieht dieser auch den Bodenmarkt, der aufgrund eines Bodenmoratoriums private Investitionen bisher fast unmöglich gemacht hat und damit nicht den EU-Standards entspricht. Eine Abkürzung des Beitrittsprozesses sei laut Salhofer aber ohnehin kaum denkbar, weil man damit Länder in Südosteuropa, die schon viel länger um die Erfüllung der Kriterien ringen, vor den Kopf stoßen würde.

Dennoch blickt Hryhoriy Tkatchenko voller Sehnsucht Richtung Westen: „Zwischen uns und der EU stehen nur das Ende des Krieges und die Zustimmung der Mitgliedsländer.“ Man wolle sich als verlässlicher Partner zeigen. Die Sorgen der Landwirte in der Union, von den Großbetrieben mit niedrigen Preisen an die Wand gedrückt zu werden, kann er nicht nachvollziehen. „Sagen sie ihren Bauern, dass sie sich nicht vor der Konkurrenz fürchten müssen. Unsere Hauptmärkte für Getreide liegen anderswo. Und wenn die Ukraine Mitglied ist, kann die EU mit ihren Mengen als viel stärkerer Player am Weltmarkt auftreten.“ Auch die Sorgen über die Eigenversorgung Europas seien dann Vergangenheit und der Schlüssel zur Sojaversorgung für die Nutztierhaltung würde hier liegen. Auf die Frage nach den Produktionsstandards meint der Agrarunternehmer, dass sich die Ukraine heute schon an die Vorgaben der Abnehmer anpassen würde. „Es stimmt, dass die Tiere in der EU noch besser behandelt werden als bei uns. Hier sind zum Beispiel Käfigeier noch erlaubt. Aber letztlich soll der Konsument über die Qualität entscheiden.“

Auch beim Außenwirtschaftscenter in Kiew ist man davon überzeugt, dass eine Anpassung an EU-Standards mittelfristig umsetzbar ist. Gemäß dem Assoziierungsabkommen habe sich das Land verpflichtet, ihre Gesetzgebung und die Produktionsstandards mit der EU zu harmonisieren. „Wir verstehen aber auch die Sorgen, dass die Ukraine mit riesigen Flächen ertragreicher Böden, vergleichsweise billigen Arbeitskräften und einer vorteilhaften Lage zu den Absatzmärkten die europäischen Landwirte in den Hintergrund drängen könnten“, so Volodymyr Chomenko. Schon seit der Umsetzung des Freihandelsabkommens würden aber mehr Agrarprodukte aus der Ukraine in die EU kommen als umgekehrt. „Die EU exportiert aber vor allem fertige Lebensmittel, während die Ukraine in erster Linie Rohstoffe ausführt. Die Aufnahme der Ukraine wäre ein Gewinn für die EU.“