Foto: Blick ins Land

Bittere Ernte im salzigen Land

Die Lagune von Venedig ist zugleich Naturjuwel und Tourismushotspot. Dazwischen wird aber auch intensiv Landwirtschaft betrieben, wie STEFAN NIMMERVOLL bei einer Reise an die Adria erfahren hat.

Die Gemeinde Cavallino Treporti unweit von Venedig und Jesolo auf einer Landzunge zwischen Lagune und Meer gelegen, dürfte vielen Österreichern vor allem als Reiseziel bekannt sein. Mit ihren fast 30 mitunter riesigen Campingplätzen rühmt sich die Kommune, Europas wichtigste Open Air-Tourismus-Destination und der Ort mit den sechstmeisten Übernachtungen von ganz Italien zu sein. Zu Spitzenzeiten vor der Corona-Krise zählte man bei 13.500 Einwohnern 6,2 Mio. Übernachtungen. Ein Mekka des Massentourismus also. Begibt man sich nur wenige hundert Meter weit ins Hinterland, stößt man auf eine ländliche Idylle mit kleinen Gemüsebaubetrieben, die in einer fragilen Umgebung gegen die Auswirkungen des Klimawandels um ihr Überleben kämpfen.

Einer davon ist Azienda Agricola Scarpi Francesco, die auf viereinhalb Hektar unter anderem die für die Region typischen violetten Artischocken und grünen Spargel, sowie viele andere Gemüsekulturen anbaut. Der Bauer und seine Partnerin Silvia Rui sind in der Lagune aufgewachsen und kennen die Gegend wie ihre Westentasche. Selber Landwirtschaft betreiben sie erst seit wenigen Jahren. Unter dem Namen „Terre Salate“ („salziges Land“) vermarkten sie auch Nudeln aus eigenem Weizen. „Die anderen Bauern haben uns ursprünglich gesagt, dass der auf solchen Böden gar nicht wächst“, erzählt Rui. „Wir haben das Gegenteil bewiesen.“ Weniger gut als das Getreide haben jedoch die Obstbäume, die die beiden gepflanzt haben, die Rekordtrockenheit des Sommers ausgehalten. Sie haben ihre Blätter abgeworfen, als das Salzwasser aus tieferen Schichten nach oben gewandert ist. Ob sie nächstes Jahr wieder austreiben werden, steht in den Sternen.

Ähnliches berichtet Matteo Bisol, der auf der nahen Insel Mazzorbo als einziger Winzer direkt am Stadtgebiet Venedigs Wein keltert. Im Hof eines ehemaligen Konvents hat sein Großvater Gianluca 80 Ar der fast ausgestorbenen lokalen Rebsorte Dorona gesetzt. Der halbe Liter des exklusiven Gewächses „Venissa“ wird in Flaschen mit handgeschlagenen Goldetiketten um wohlfeile 160 Euro verkauft. Ein guter Teil kommt im familieneigenen Sternerestaurant ins Glas. Wie es mit dem Jahrgang 2022 aussehen wird, weiß Bisol, der aus einer bekannten Winzerdynastie aus dem für Prosecco bekannten Valdobbiadene abstammt, nicht. „Wir haben die Trauben von jenen Stöcken, die das Laub verloren haben, extra vinifiziert. Der Wein schmeckt so salzig, dass man ihn nicht trinken kann.“ Entscheidend ist dabei ein Höhenunterschied von fünf Zentimetern. „In den Gräben zwischen den Zeilen steht immer Salzwasser. Die Veränderung des Niveaus hat also gewaltige Auswirkungen“, so Bisol. Man habe im Sommer versucht, der Versalzung des Bodens mit Kalk entgegenzuwirken, damit aber keinen Erfolg gehabt. Wie das ambitionierte Projekt eines echten Venezianischen Weins fortgeführt werden kann, wird von den Niederschlägen im kommenden Winter abhängen, die das Salz wieder in tiefere Bodenschichten waschen könnten.

Das Gefühl, der Natur ausgeliefert zu sein, haben die Vorväter der heutigen Lagunenbauern bereits im Jahr 1966 schmerzvoll kennengelernt, als eine Jahrhundertflut ihre Kulturen unter Wasser setzte. Damals fand der erfolgreiche Anbau von Pfirsichen auf den teils erst wenige Jahrzehnte zuvor trockengelegten Fluren ein jähes Ende. Neue Bäume auszupflanzen und drei Jahre auf Ertrag warten zu müssen, war wirtschaftlich nicht drinnen. In ihrer Not bauten die Bauern Gemüse, das sie am Markt in Venedig verkauften. Gleichzeitig stand erstmals Plastik als günstiges Material für Gewächshäuser zur Verfügung. Die zwangsgedrungene Neuausrichtung der Landwirtschaft wurde, auch dank der bald gegründeten Genossenschaften, innerhalb weniger Jahre zum Erfolg. „Im Winter ist es bei uns drei bis vier Grad wärmer als am Festland und der Boden sorgt für einen ganz speziellen Geschmack“, meint Savino Cimarosto, der mit seiner Familie auf der Insel Sant´Erasmo unter anderem die berühmten violetten Artischocken erntet. Allerdings hat auch er heuer mit Salzblüten auf den Feldern zu kämpfen gehabt. „Vom 6. Jänner bis Mitte September hat es nur einen einzigen echten Regentag gegeben. Im Sommer haben wir die Hälfte unserer Produktion verloren.“ Wäre er nicht in einem Netzwerk mit anderen Biobauern, die ihm Ware zur Verfügung stellen konnten, hätte er seinen Shop in Venedig nicht bestücken können. „Wir haben jetzt noch einmal neu gepflanzt und hoffen, dass das Regenwasser das Salz wieder nach unten drückt“, erzählt Cimarosto.

Die Degradierung der Böden ist längst nicht das einzige Problem, mit dem die Bauern kämpfen. Die Zahl der Betriebe ist in den vergangenen 20 Jahren von 500 auf 200 zurückgegangen. Viele Felder liegen brach, weil sich kein Pächter findet. Zudem ist man, wie im intensiven Gemüsebau üblich, auf Fremdarbeitskräfte angewiesen. Saisoniers gehen aber lieber in den Tourismus, wo die Arbeit einfacher und die Bezahlung besser ist. Mittlerweile werden sogar Leute aus Bangladesch eingeflogen, um die Ernte einzubringen. „Ein weiteres Problem ist, dass die gesamte Lagune Schutzgebiet ist“, ergänzt Silvia Rui. Neue Gebäude zu errichten, ist nahezu unmöglich. Schon die Vergrößerung eines Fensters ist ein bürokratischer Spießrutenlauf. Für die Entwicklung ihrer Azienda Agricola, zu der bald auch Ferienwohnungen gehören sollen, muss daher der Altbestand so gut als möglich adaptiert werden. Zumindest im Tourismus erkennt die Bäuerin ein Umdenken: „Die Restaurants und Campingplätze bieten für ihre Gäste aus den deutschsprachigen Ländern nicht mehr nur Bratwürstel und Pommes, sondern auch regionale und saisonale Spezialitäten an.“ Den Geschmack der „Terre Salate“ sollen die Urlauber dann direkt vom Hof mit nach Hause nehmen.

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