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Traditionen nicht in Stein gemeißelt

Die Tradition der Heimfahrt mit geschmückten Tieren und einem großen Fest gehört zur Almwirtschaft dazu. Tierrechtler stellen den Brauch aber in Frage. STEFAN NIMMERVOLL war bei einem Almabtrieb in Tirol dabei.

Ein regnerischer Samstag in Fügen im Zillertal. Fesch geschmückten Kühe werden durch ein Spalier von Schaulustigen durch den Ort getrieben. Viele der Gäste kommen hörbar aus jenen Regionen Deutschlands, die sich jenseits des Weißwursthorizonts befinden. Es herrscht Freude daran, bei einem derart traditionsreichen und urigen Ereignis dabei sein zu könne. Aber es mischt sich auch Skepsis darunter. „Richtig wohl fühlen sich die Kühe da nich´, oder?“, fragt eine ältere Dame ihren Begleiter. Als ein Rind mit einem sanften Klaps auf die Marschrichtung aufmerksam gemacht wird, ruft ein anderer laut: „Das war aber jetzt nicht notwendig!“

Mit derartigen Zweifeln, die an jenem Samstag im Zillertal in der Masse der Zuschauer untergehen, ist man anderswo schon länger konfrontiert. In Maierhöfen im Allgäu wurde der dort Viehscheid genannte Abschluss des Almsommers unter anderem deshalb gleich ganz abgesagt, weil die Bauern Berichten zufolge mit Morddrohungen von Tierschützern konfrontiert waren. Die Tiere wurden lieber mit Lastwagen ins Tal gebracht. Zu schwer seien der Schmuck und die Glocken, zu weit und zu beschwerlich der Weg. Der archaische Brauch entspreche nicht mehr den Vorgaben der heutigen Zeit. Und eigentlich werde das alles ja sowieso nur zur Profitmaximierung im Tourismus gemacht, monieren Kritiker.

Mit der Einordnung solcher Aussagen befasst sich der Philosoph Christian Dürnberger vom Messerli Forschungsinstitut für Mensch-Tier-Beziehungen an der Veterinärmedizinischen Universität in Wien: „Ein Tierrechtler wird den Almabtrieb grundsätzlich ablehnen, da seines Erachtens Tiere nicht für menschliche Zwecke rund um die Lebensmittelproduktion verwendet werden dürfen.“ Dieser sei so etwas wie die symbolische Verdichtung einer Instrumentalisierung von Tieren. Aus einer Tierwohl-Position heraus sei aber sehr wohl eine Abwägung möglich: „Auch wenn der Almabtrieb Stress für die Tiere verursacht, so waren sie immerhin zuvor auf der Alm, könnte ein beispielhaftes Argument dieser Perspektive lauten.“ Die Ankurbelung des Tourismus oder die Steigerung des Verkaufs bäuerlicher Produkte durch derartige Events könnten im Idealfall indirekt sogar das Tierwohl fördern. „Wo finanzieller Handlungsspielraum vorhanden ist, sind bessere Haltungsbedingung immerhin realistischer“, so Dürnberger.

Ihr seien in Tirol ohnehin keine Vorwürfe im Zusammenhang mit Almabtrieben bekannt, meint die Geschäftsführerin des hiesigen Almwirtschaftsvereines, Katharina Dornauer: „Die Tiere werden nicht gehetzt, weil die Bauern sie ja nicht überfordern wollen. Als Besucher sieht man nur das letzte Ankommen im Tal, bei dem ein Wanderer ja auch müde ist.“ Es gebe beim Abtrieb auch keine Verletzung der Tiere. Wenn eine Kuh nicht gut gehe, werde sie abgeholt. „Eher kommt es noch vor, dass beim Durchzug durch ein Dorf ein parkendes Auto von einer Glocke beschädigt wird, weil eine Kuh zu neugierig ist.“ Natürlich habe sich der Tourismus sehr stark eingebracht. „Für die Bauern geht es aber immer noch in erster Linie darum, sich beim Herrgott zu bedanken, dass der Almsommer gut verlaufen ist“, so Dornauer.

Josef Lanzinger aus Söll am Wilden Kaiser hat gerade das Almfest in seiner Heimatgemeinde hinter sich gebracht und ist zufrieden. Auch wenn die Veranstaltung nicht so groß war wie vor vier Jahren, sind erstmals seit der Coronapandemie wieder tausende Zuseher dabei gewesen. „Die Heimfahrt ist sehr positiv verlaufen“, sagt der Bauer, der auch Obmann des Tiroler Almwirtschaftsverbandes ist, „die Leute haben viele Fotos und Videos gemacht, sind aber nicht so extrem in die Mitte gedrängt, wie es früher der Fall war.“ Ein Ende des Almsommers ohne aufgebuschte Kühe kann er sich nicht vorstellen. Rein finanziell sei es bei den Kosten für Schmuck und Glocken und den Arbeitsaufwand dafür zwar vermutlich sogar besser, das Vieh mit dem Hänger herunterzuführen. „Das Fest beim Almabtrieb ist aber auch eine Motivation, im kommenden Jahr wieder hinaufzugehen.“

Genau diese brauchen die Landwirte, um die traditionelle Bewirtschaftung hoch oben aufrecht zu erhalten. In Tirol sei es in den letzten Jahren gelungen, das Milchvieh weitgehend auf den Almen zu halten und dadurch eine intensive Pflege zu gewährleisten, sagt Katharina Dornauer. „Wir bringen 30.000 Milchkühe auf die Berge.“ In einzelnen Gemeinden sind das alleine mehr als in der gesamten Steiermark. Jedes zweite Rind auf den Tiroler Bergweiden wird noch gemolken. Diese Tiere seien das Rückgrat der Almwirtschaft.

„Alleine mit Jungvieh sind auch keine Almabtriebe möglich. Die Bauern gewöhnen die Rinder, die zum ersten Mal dabei sind, zwar mit Larven an die neue Situation. Damit es funktioniert, braucht es aber erfahrene Altkühe, die mitgehen“, bestätigt Josef Lanzinger. Dass es dennoch schwieriger wird, die Rinder zu Fuß abzutreiben, ist unbestritten. „Durch die Verbauung sind Rastplätze verschwunden und auf vielbefahrenen Straßen ist es nicht angenehm Rinder zu treiben.“ Rund die Hälfte des Almviehs wird deshalb heute bereits motorisiert ins Tal gebracht, glaubt er. Vom Tierwohlaspekt her sei das aber vermutlich sogar riskanter: „Auf einem Hänger verletzt sich eine Kuh viel eher, als wenn sie marschiert.“

„Freilich könnte man den Almabtrieb auch anders gestalten“, fasst Christian Dürnberger zusammen. „Traditionen sind ja nicht in Stein gemeißelt, sondern entwickeln sich weiter.“ Die Diskussion laufe grundsätzlich auf die Frage hinaus, welchen Wert die Gesellschaft Traditionen zuerkenne. „Und noch präziser: Wie gehen wir mit Traditionen um, die uns weitgehend fremd bleiben. Denn die eigenen Traditionen, die man selber lebt, findet man ja immer gut.“ In einer Gesellschaft zu leben, bedeute dabei vielleicht nicht zuletzt, es aushalten zu können, dass andere Menschen andere Vorstellungen haben. Über dieses „Aushalten“ sinniert auch Josef Lanzinger: „Solange der Gesetzgeber keine Verbote diskutiert, halten wir es als Almbauern aus, wenn uns gewisse Gruppen angreifen.“